Was ist virtuelle Realität?
Der erste Band des Treatise on Virtual Reality, veröffentlicht im Jahr 2006, definiert virtuelle Realität als „ein wissenschaftliches und technisches Feld, das Informatik und Schnittstellen nutzt, um in einer virtuellen Umgebung das Verhalten von 3D-Entitäten zu simulieren, die in Echtzeit miteinander und mit einem oder mehreren Nutzern in einer pseudo-natürlichen Immersion über sensomotorische Kanäle interagieren.“
Daraus ergeben sich drei zentrale Merkmale zur Beschreibung virtueller Realität:
- Immersion: das Gefühl, sich im dreidimensionalen Raum des Bildes zu befinden,
- Interaktivität: die Möglichkeit, sich durch diesen Raum zu bewegen und mit Objekten zu interagieren,
- Echtzeit: die sofortige Wahrnehmung von Veränderungen im Raum, die durch eigene Handlungen entstehen.
Im Gegensatz zur erweiterten Realität (Augmented Reality), bei der digitale Elemente in die reale Welt eingeblendet werden, tauchen VR-Nutzer vollständig in eine computergenerierte Welt ein, mit der sie dynamisch interagieren können.
Im Gesundheitswesen eröffnet diese Fähigkeit zur Schaffung realistischer und kontrollierter Simulationen vielfältige Möglichkeiten in Lehre, Therapie und Forschung.
In welchen Fällen und für welche Anwendungen wird virtuelle Realität heute im Gesundheitswesen eingesetzt?
Die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen zur VR im Gesundheitswesen ist in den letzten Jahren exponentiell gestiegen. Im Zeitraum 1985–2021gab es mehr als 15.500 Veröffentlichungen – davon allein fast 2.800 im Jahr 2021 (gegenüber 950 im Jahr 2016).
Während sich frühe Forschungsarbeiten vor allem auf medizinisches Training und Rehabilitation konzentrierten, umfasst das Einsatzspektrum heute auch Expositionstherapien mittels virtueller Realität und Schmerzbehandlung.
Ausbildung von medizinischem Fachpersonal
Virtuelle Realität hat die Aus- und Weiterbildung im Gesundheitswesen revolutioniert, indem sie realistische Simulationsumgebungen bietet, in denen Ärzte gefahrlos üben können. Medizinstudierende können so beispielsweise an virtuellen Operationstrainings teilnehmen, bei denen sie komplexe Eingriffe in einer simulierten Umgebung durchführen, bevor sie diese am realen Patienten anwenden. Diese Simulationen ermöglichen nicht nur die Wiederholung technischer Handgriffe, sondern auch das Training für Notfallsituationen oder unerwartete Komplikationen.
Die französische Privatklinik Hôpital Privé de la Baie in der Normandie ist die erste Einrichtung in Frankreich, die VR in die Weiterbildung integriert, um Risiken im Operationssaal zu vermeiden. Dafür nutzt das Team das Serious Game „the error room“, das Pflegekräfte und Studierende immersiv im OP trainiert.
Schmerzbehandlung
VR bietet innovative Ansätze zur Schmerzlinderung, insbesondere bei chronischen Schmerzen oder in der Palliativversorgung. Durch das Eintauchen in entspannende oder ablenkende virtuelle Welten kann das Schmerzempfinden verringert und der Bedarf an Schmerzmitteln reduziert werden.
In einer Studie mit 11 Brandopfern im Alter von 9 bis 40 Jahren wurde bei VR-Anwendung zusätzlich zur medikamentösen Behandlung eine Reduktion des Schmerzempfindens um 35–50 % festgestellt (Hoffman et al., 2008).
Cybertherapien bzw. Expositionstherapie mit VR
Virtuelle Realität wird auch zur Behandlung verschiedener psychologischer Erkrankungen eingesetzt. Im Rahmen kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren wird VR eingesetzt, um Phobien, Ängste, Süchte oder posttraumatische Belastungsstörungen zu behandeln – durch kontrollierte, schrittweise Konfrontation mit auslösenden Situationen.
Auf diese Weise können zum Beispiel Patienten mit Höhenangst (Akrophobie) in einer virtuellen Umgebung wiederholt Höhen erleben – in sicherer Umgebung.
Physiotherapeutische Rehabilitation
VR-Programme helfen Patienten beim Wiedererlernen motorischer Fähigkeiten nach Schlaganfällen oder Verletzungen. Immersive Übungen fördern dabei aktivierende, repetitive Bewegungsabläufe, die den Genesungsprozess beschleunigen können.
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Was sind die Vorteile der Nutzung von virtueller Realität im Gesundheitswesen?
Es ist heute belegt, dass der Einsatz von VR im Gesundheitswesen eine Vielzahl an Vorteilen mit sich bringt. Ihr Potenzial liegt vor allem in der Möglichkeit, Situationen zu simulieren, die in der realen Welt schwer oder gar nicht darstellbar wären:
Vorteil Nr. 1: kontrollierte und steuerbare Umgebungen
Es gibt keine unvorhersehbaren Ereignisse – die simulierten Szenarien sind stabil und ohne Risiko, selbst bei seltenen oder extremen Situationen. Die Umgebungen sind anpassbar und erfassen objektive Daten, wodurch Ergebnisse vergleichbar und reproduzierbar werden.
Vorteil Nr. 2: personalisierbare Umgebungen, angepasst an die Nutzer
Eine VR-Umgebung kann gezielt an die Bedürfnisse der Patienten oder des Fachpersonals angepasst werden.
In einer Therapie gegen Agoraphobie zum Beispiel ist es in der Realität schwierig, genau vorherzusagen, wie voll ein U-Bahn-Waggon sein wird – in VR lässt sich dies exakt einstellen. Diese Individualisierung steigert die Motivation der Nutzer und verbessert die Wirkung der Behandlung, ob in einem tatsächlichen Therapie- oder einem Trainingskontext.
Vorteil Nr. 3: Gamifizierung fördert langfristige Motivation
In der Rehabilitation lässt sich häufig ein Rückgang der Motivation von Patienten beobachten – insbesondere, wenn der Prozess langwierig und schmerzhaft ist. VR kann dabei helfen, Patienten in eine spielerisch gestaltete, individuell anpassbare Welt zu versetzen. Durch die Einbettung der Übungen in ein ansprechendes Spielgeschehen vergessen die Nutzer, dass sie sich in einer Reha-Sitzung befinden.
Diese Methode wird insbesondere von Physiotherapeuten eingesetzt und hat in den letzten Jahren zunehmend Einzug in Unternehmen gefunden. Ein Beispiel hierfür ist MindMotion, ein VR-System zur neurologischen Rehabilitation, das sowohl von der FDA zugelassen als auch mit dem CE-Kennzeichen versehen ist – und bereits mehr als 3.300 Patienten unterstützt hat.
Welche Herausforderungen bestehen aktuell für den breiten Einsatz von VR im Gesundheitswesen?
Trotz ihrer Vorteile sind mit VR im Gesundheitswesen auch einige Hürden verbunden:
Herausforderung Nr. 1: Nebenwirkungen wie Cybersickness
VR kann das sensorische System überfordern und Symptome wie Übelkeit, Schwindel, Schwitzen, Blässe oder Gleichgewichtsstörungen hervorrufen – insbesondere bei empfindlichen Personen.
Herausforderung Nr. 2: hohe Anschaffungs- und Wartungskosten
Die Kosten für VR-Geräte und deren Instandhaltung sind nach wie vor hoch und können eine flächendeckende Einführung erschweren.
Herausforderung Nr. 3: technologische Einstiegshürden
Der Umgang mit VR erfordert technisches Know-how sowie leistungsfähige Hardware – das kann die Integration in den klinischen Alltag verzögern.
Herausforderung Nr. 4: Datenschutz und Datensicherheit
Gerade im Gesundheitsbereich ist der Umgang mit sensiblen Daten kritisch. Die Systeme müssen den Datenschutzstandards (z. B. DSGVO) entsprechen.
Herausforderung Nr. 5: Hygiene und Sicherheit der VR-Ausrüstung
VR-Headsets in medizinischer Umgebung müssen leicht zu reinigen, desinfizierbar und hygienegerecht gestaltet sein – ggf. mit austauschbaren Komponenten. Werden sie als Medizinprodukt eingesetzt, ist zusätzlich eine CE-Zertifizierung gemäß EU-Verordnung 2017/745 erforderlich.
Trotz technischer, wirtschaftlicher, ethischer und regulatorischer Herausforderungen ist das Potenzial der virtuellen Realität im Gesundheitswesen enorm. Wenn bestehende Hürden überwunden und die wissenschaftliche Evidenz weiter gestärkt wird, könnte VR zu einem unverzichtbaren Bestandteil moderner Medizin werden – mit innovativen Lösungen zur Verbesserung von Versorgung und Ausbildung.
Die Dynamik ist bereits spürbar: Fortschritte bei Motion-Capturing, der Einzug von Künstlicher Intelligenz oder neue multisensorische VR-Systeme (inkl. Geruch) lassen erahnen, was möglich ist.
Wir von Alcimed beobachten diese Entwicklungen aufmerksam und begleiten Sie gerne bei Ihren Projekten im Bereich Digital Therapeutics (DTx). Kontaktieren Sie unser Team.
Über die Autorin,
Mathilde, Consultant in Alcimeds Innovations- und Public Policy Team in Frankreich