Frauengesundheit: Jenseits der Diagnose bestehen Ungleichheiten fort
Auch nach der Diagnosestellung bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede in der medizinischen Versorgung – ein Hinweis auf tief verwurzelte strukturelle Ungleichheiten. Frauen sehen sich dabei häufig mit einer Bagatellisierung ihrer Symptome konfrontiert: 38 % geben an, dass ihre Schmerzen bereits heruntergespielt wurden, und 20 % berichten, unter Druck gesetzt worden zu sein, unerwünschten Eingriffen zuzustimmen. Endometriose – eine Erkrankung, von der etwa 10 % der Frauen betroffen sind – ist ein Beispiel für diese Verzerrungen: Im Schnitt dauert es sieben Jahre bis zur Diagnose, obwohl die chronischen Schmerzen zu bis zu 31 Krankheitstagen pro Jahr führen können. Diese Verzögerung liegt nicht an mangelndem medizinischem Wissen, sondern an der generellen Unterschätzung weiblicher Leiden.
In Frankreich wurde in einem Bericht des Hohen Rates für die Gleichstellung von Frauen und Männern (2020) betont, dass diese Ungleichheiten aus einem tief verwurzelten Gender-Bias in der Beziehung zwischen behandelnden Fachkräften und Patientinnen resultieren. Der Bericht stellt klar: Das Einbeziehen von Geschlecht und Gender in der Gesundheitspolitik ist keine Option, sondern eine Voraussetzung für eine gerechte, wirksame und wirklich inklusive Medizin.
Warum werden Frauen oft schlechter versorgt als Männer?
Geschlechterstereotype und soziokulturelle Verzerrungen
Neben Verzögerungen bei Diagnosen wirken sich auch soziokulturelle Vorurteile und Geschlechterstereotype erheblich auf die medizinische Versorgung von Frauen aus. Diese Vorstellungen beeinflussen die Wahl von Behandlungen – sowohl bei der Verschreibung als auch im Hinblick auf die Rolle, die Frauen im Gesundheitssystem einnehmen.
Geschlechterstereotype prägen Verschreibungspraktiken zum Nachteil von Frauen. Bei gleichen Symptomen erhalten Frauen häufiger Anxiolytika oder Antidepressiva, während Männern eher technische Untersuchungen oder Therapien angeboten werden. Diese – wissenschaftlich nicht begründbaren – Unterschiede in der Behandlung spiegeln die Tendenz wider, weibliche Beschwerden zu „psychologisieren“. Ein markantes Beispiel ist der Umgang mit Schmerzen: Diese werden bei Frauen häufig als übertrieben oder emotional begründet wahrgenommen – und folglich schlechter behandelt. Frauen müssen länger auf die Verschreibung von Schmerzmitteln warten, obwohl sie häufiger und intensiver unter Schmerzen leiden. Solche Ungleichheiten zeigen, wie tief Wahrnehmungsverzerrungen verankert sind – mit spürbaren Folgen für die Betroffenen.
Ein weiterer gesellschaftlicher Bias ist die stereotype Zuordnung der Pflege- und Fürsorgerolle an Frauen: Fast 60 % der pflegenden Angehörigen sind weiblich. Diese Überrepräsentation resultiert aus gesellschaftlichen Erwartungen, die Frauen „natürlicherweise“ in diese Rolle drängen – ohne dass diese Norm ernsthaft infrage gestellt wird.
Diese Rolle bleibt nicht ohne Folgen für die Gesundheit der betroffenen Frauen. Einerseits ist sie mit einer erheblichen mentalen, physischen und emotionalen Belastung verbunden, die in der medizinischen Versorgung kaum berücksichtigt wird: Nur 13 % der Pflegenden geben an, nach ihrem eigenen Gesundheitszustand gefragt zu werden. Andererseits führt das Engagement oft dazu, dass Frauen ihre eigene medizinische Betreuung vernachlässigen: 31 % geben an, ihre Gesundheit wegen ihrer Pflegeverantwortung zu vernachlässigen.
Frauen übernehmen also häufiger die Pflege ihrer Angehörigen – und tragen auch die gesundheitlichen Folgen. Diese Tatsache sollte in der Gesundheitspolitik stärker berücksichtigt werden, damit das Engagement der Betroffenen nicht länger zulasten ihrer eigenen Gesundheit geht.
Wenig bekannte oder unterschätzte frauenspezifische Erkrankungen und Besonderheiten
Besonderheiten in der Frauengesundheit werden nach wie vor zu wenig berücksichtigt – nicht nur in der Forschung zu Therapien, sondern auch bei deren klinischer Anwendung. Besonders deutlich wird dies beim Schmerzmanagement. Einige schmerzhafte Erkrankungen wie Fibromyalgie, Migräne oder muskuloskelettale Störungen treten häufiger bei Frauen auf. Diese leiden öfter und stärker – doch ihr Schmerz wird schlechter behandelt. Teilweise ist das auf hormonelle Faktoren zurückzuführen: So wird vermutet, dass Östrogene die Schmerzsensitivität erhöhen, während Testosteron, das bei Männern stärker vorhanden ist, eine schmerzhemmende Wirkung hat.
Trotz dieser Erkenntnisse werden biologische Unterschiede bei der Wirkung von Schmerzmitteln kaum berücksichtigt. In-vivo-Studien an Tiermodellen, durchgeführt am Institute of Cellular and Integrative Neurosciences in Straßburg, haben gezeigt, dass Morphin bei weiblichen Tieren weniger wirksam ist – sie benötigen höhere Dosen und entwickeln schneller eine Toleranz. Diese Forschungsergebnisse belegen, dass die Mechanismen der Schmerzverarbeitung (Nozizeption) je nach biologischem Geschlecht unterschiedlich sind. Es ist daher entscheidend, diese Unterschiede bei der Entwicklung und Verabreichung von Schmerzmitteln zu berücksichtigen, um ihre Wirksamkeit zu erhöhen und Nebenwirkungen zu reduzieren.
Der dringende Bedarf an multidisziplinärer Koordination
Die Frauengesundheit erfordert eine unbedingt notwendige, bisher aber lückenhafte interdisziplinäre Zusammenarbeit – insbesondere aufgrund hormoneller und physiologischer Besonderheiten, die in klassischen Versorgungspfaden oft unzureichend berücksichtigt werden. Diese notwendige Interdisziplinarität stößt jedoch in der Praxis auf erhebliche Umsetzungsprobleme.
Beim Nachsorgeprozess von Brustkrebspatientinnen etwa erfordert die Behandlung von neuropathischen Schmerzen eine enge Zusammenarbeit zwischen Gynäkologen, Onkologen und Neurologen. Diese Synergie fehlt jedoch häufig, was eine angemessene und wirksame Versorgung verzögert. Auch die Von-Willebrand-Krankheit verdeutlicht diese Herausforderungen. Sie äußert sich häufig erstmals durch starke Monatsblutungen, bleibt aber aufgrund bestehender Tabus rund um die Menstruation oft unerkannt. Die Diagnose erfordert einen multidisziplinären Ansatz: Gynäkologen sollten Hämatologen und Hausärzte einbinden. Ohne koordinierte Zusammenarbeit verlängert sich der Versorgungsweg unnötig – zum Nachteil der betroffenen Patientinnen.
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3 Initiativen für eine gerechtere Gesundheitsversorgung von Frauen und Männern
Angesichts der anhaltenden Ungleichheiten in der Versorgung von Frauen engagieren sich verschiedene Akteure – Institutionen, Gesundheitsfachkräfte und die pharmazeutische Industrie – für einen Wandel in der Praxis. Diese Initiativen setzen an den zentralen Herausforderungen an: die Sensibilisierung der Fachkräfte, die Mobilisierung der Öffentlichkeit und die Anpassung medizinischer Verfahren an weibliche Bedürfnisse. Drei konkrete Beispiele zeigen diese Dynamik:
Initiative Nr. 1: ein differenzierter Ansatz zur Schulung und Sensibilisierung von Fachkräften
Das Merkblatt der französischen Gesundheitsbehörde Haute Autorité de Santé (HAS) aus dem Jahr 2025 zum Umgang mit Übergewicht und Adipositas bei Frauen unterstreicht die Bedeutung der Berücksichtigung physiologischer Besonderheiten (Hormonzyklen, Menopause, Schwangerschaften) und sozialer Faktoren (Schönheitsideale, mentale Belastung, prekäre Lebensverhältnisse) in der medizinischen Praxis. Neben dem Bericht „Geschlecht, Gender und Gesundheit“ aus dem Jahr 2020 und einigen gezielten Initiativen – etwa im Bereich Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ist dies eine der ersten Empfehlungen der HAS, die sich vollständig einer geschlechterspezifischen Herangehensweise widmet. Die Empfehlung, Kommunikation und Behandlung entsprechend anzupassen, markiert einen Wendepunkt im Verständnis sogenannter „geschlechtsneutraler“ Medizin. Sie zeigt: Auch bei allgemein verbreiteten Erkrankungen kann ein gendersensibler Ansatz die Versorgungsqualität verbessern.
Initiative Nr. 2: eine aktivistische Kampagne zu Endometriose zur Mobilisierung der Öffentlichkeit
Im Jahr 2016 startete die Gynäkologin Chrysoula Zacharopoulou in Frankreich eine landesweite Kampagne, um das – trotz der hohen Prävalenz dieser Erkrankung – lange kaum beachtete Thema Endometriose stärker in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Kampagne trug dazu bei, die Krankheit aus der Tabuisierung herauszuholen und zu einer gesundheitspolitischen Priorität zu machen. Ihre Initiative, unterstützt von Institutionen, Politik und Industrie, half, der Krankheit als ernstzunehmendes Gesundheitsproblem mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Die Kampagne zeigt, welche Wirkung eine koordinierte Mobilisierung auf das kollektive Bewusstsein und auf gesundheitspolitische Entscheidungen haben kann.
Initiative Nr. 3: Roches Kampagne zu Lungenkrebs bei Frauen – ein Perspektivwechsel
Ein weiteres Beispiel ist die Aufklärungskampagne des Pharmaunternehmens Roche im Jahr 2021 zum Thema Lungenkrebs bei Frauen. Diese Krebsart, üblicherweise mit dem Tabakkonsum von Männern assoziiert, betrifft zunehmend auch Frauen. Die Idee der Kampagne: Während des „Monat des Nichtrauchens“ sollten möglichst viele Frauen zwischen 25 und 40 Jahren über Instagram erreicht werden. Der eigens dafür eingerichtete Account @lecancerdupoumon verschickte die Nachricht: „Der Lungenkrebs folgt dir jetzt“. Roche trug so dazu bei, gesellschaftliche Wahrnehmungen zu verändern und Erkrankung von Frauen stärker in den Fokus zu rücken. Die Initiative zeigt, dass auch die Pharmaindustrie ein Motor für Wandel sein kann – indem sie Produkte und Kommunikationsstrategien stärker auf die Bedürfnisse von Patientinnen ausrichtet.
Die Ungleichheiten in der medizinischen Versorgung von Frauen und Männern haben ihre Wurzeln in tief verankerten geschlechtsspezifischen Stereotypen – die auch heute noch die ärztliche Praxis beeinflussen: bagatellisierte Schmerzen, „psychologisierte“ Beschwerden, unpassende Behandlungen. Doch diese systemischen Verzerrungen sind nicht unveränderlich.
Pflegekräfte zu sensibilisieren, Patientinnen besser zu informieren und Behandlungen an den weiblichen Körper anzupassen – all das sind wirksame Hebel, die aktiviert werden sollten. Gesundheitsunternehmen spielen dabei eine zentrale Rolle: durch neue Produkte, zielgerichtete Kampagnen oder Services, die Geschlecht und Gender gezielt berücksichtigen. Denn wer gerecht behandeln will, braucht auch andere Innovationen.
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Über die Autorin,
Eve, Consultant in Alcimeds Healthcare Team in Frankreich