Wenn Symptome sich unterscheiden: Trotz gleicher Erkrankung bleiben Anzeichen bei Frauen oft unerkannt
Einige Krankheiten äußern sich je nach Geschlecht unterschiedlich. Dennoch wurde die moderne Medizin historisch auf einem männlichen Modell aufgebaut, das als Norm galt. Frauen waren in klinischen Studien lange unterrepräsentiert, ihre spezifischen Bedürfnisse fanden in Forschungsprotokollen wenig Beachtung. Noch heute leidet die medizinische Praxis unter dieser „Unisex“-Herangehensweise.
Die Folge: Frauenspezifische Symptome sind sowohl Patientinnen als auch Ärztinnen oft unzureichend bekannt – sie werden unterschätzt, falsch eingeordnet oder bei der Diagnose gänzlich übersehen.
Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Herzinfarkt: Während dieser häufig mit starken Brustschmerzen assoziiert wird, äußert er sich bei Frauen oft in Form von Übelkeit, extremer Erschöpfung, Atemnot oder diffuser Schmerzen. Diese Warnsignale sind in der Öffentlichkeit wenig bekannt und auch in der medizinischen Routine nicht ausreichend verankert. In Frankreich ignorieren 8 von 10 Frauen diese Symptome – was zur verzögerten Versorgung beiträgt und teilweise die höhere Krankenhaussterblichkeit von Frauen (9,6 %) im Vergleich zu Männern (3,9 %) erklärt.
Gleiche Symptome, unterschiedliche Deutungen: 3 Beispiele für den Gender Bias in der Medizin
Medizinische Verzerrungen: Wenn das Geschlecht die Interpretation von Symptomen beeinflusst
Neben biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern prägen auch gesellschaftliche Vorstellungen von „weiblich“ und „männlich“ – also Gender – die Wahrnehmung und Bewertung von Symptomen durch medizinisches Personal.
In seinem Bericht „Geschlecht und Gender berücksichtigen, um besser zu behandeln: eine Frage der öffentlichen Gesundheit“ (2020) warnt der Hohe Rat für Gleichstellung in Frankreich vor den Auswirkungen geschlechtsspezifischer Stereotype in der ärztlichen Praxis: Hartnäckige Vorurteile können eine Diagnose verzerren, verzögern oder sogar verhindern – bei Frauen wie auch bei Männern.
Ein Beispiel: Herz-Kreislauf-Erkrankungen gelten gesellschaftlich nach wie vor als „Männerkrankheiten“ – häufig assoziiert mit übergewichtigen, rauchenden, gestressten Männern mittleren Alters. Eine Frau mit denselben Symptomen wie ein Mann (z. B. Engegefühl in der Brust) erhält daher dreimal häufiger ein Beruhigungsmittel verschrieben – während der Mann häufiger direkt zum Kardiologen überwiesen wird.
Diese Ungleichheiten betreffen jedoch nicht ausschließlich Frauen: Auch sogenannte „Frauenkrankheiten“ wie Depression oder Osteoporose werden bei Männern seltener erkannt und diagnostiziert.
Die Wurzeln dieser Verzerrungen – oft unbewusst – liegen bereits in der medizinischen Ausbildung, die sich noch immer stark an männlichen oder geschlechtsneutralen Referenzmodellen orientiert. Es fehlen Schulungen und Tools, um geschlechtsspezifische Unterschiede adäquat zu erkennen. Laut einer Studie in The Lancet (2019) behandeln weniger als 25 % der medizinischen Fakultäten in ihrem Curriculum die Bedeutung von Geschlecht und Gender für Diagnostik und Therapie. Das Resultat: ein Teufelskreis aus Unwissen und Stereotypisierung – mit ernsthaften Konsequenzen für die Versorgung.
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Soziale Verzerrungen: Wenn das Umfeld den Arztbesuch verzögert
Die geschlechtsspezifischen Stereotype beschränken sich nicht auf die ärztliche Praxis – sie beginnen bereits im sozialen Umfeld. Familie und Schule prägen früh die Wahrnehmung kindlicher Verhaltensweisen. So wird bei Mädchen mit Autismus-Spektrum-Störung sozialer Rückzug oft als „Schüchternheit“ oder „Zurückhaltung“ gewertet. Dieselben Anzeichen gelten bei Jungen eher als Hinweis auf eine Kommunikationsstörung, da sie vom als „normal“ verstandenen lebhaften Jungenverhalten abweichen.
Eltern und Lehrkräfte neigen daher dazu, bei Jungen schneller medizinischen Rat einzuholen als bei Mädchen – was zu späterer Diagnose und Intervention bei Mädchen führt.
Patientinnenverhalten: Wenn Frauen ihre Symptome selbst herunterspielen
Nicht zuletzt tragen auch Patientinnen selbst zur verzögerten Diagnosestellung bei. 70 % der Frauen geben an, erst dann ärztliche Hilfe zu suchen, wenn es nicht mehr anders geht – häufig, weil sie die Gesundheit anderer über die eigene stellen.
Diese Tendenz, Symptome zu bagatellisieren, hängt auch mit der gesellschaftlichen „Normalisierung“ weiblicher Schmerzen zusammen. Menstruationsbeschwerden oder Geburtsschmerzen werden als „Teil des Frau-Seins“ betrachtet – was dazu führt, dass z. B. Brustschmerzen seltener ernst genommen werden. Eine Studie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie zeigt: Frauen rufen bei einem Herzinfarkt im Schnitt 37 Minuten später den Rettungsdienst als Männer.
Auch das bewusste Verbergen von Symptomen spielt eine Rolle. Frauen mit Alzheimer etwa, die häufig über stärkere sprachliche Fähigkeiten verfügen, können frühe Anzeichen der Erkrankung länger kaschieren. In Kombination mit der geringeren ärztlichen Aufmerksamkeit für ihre Beschwerden verzögert sich die Diagnose – und damit auch der Zugang zu adäquater Behandlung.
Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei Autismus-Diagnosen bei Frauen: Sie entwickeln häufiger ausgeprägte Fähigkeiten zur Nachahmung und sozialen Anpassung – was ihre Schwierigkeiten im Alltag verdeckt. Diese „scheinbare Normalität“ führt zu psychischer Erschöpfung und erschwert eine rechtzeitige, korrekte Diagnose. Ihre Probleme gelten oft als „weniger ausgeprägt“, was das Risiko für Fehldiagnosen oder Nicht-Erkennung deutlich erhöht.
Die Bekämpfung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten in der medizinischen Diagnostik ist eine zentrale Herausforderung für die öffentliche Gesundheit. Es geht nicht um individuelle Schuldzuweisungen, sondern darum, systemische Mechanismen zu erkennen – und gezielt zu überwinden.
Erste Lösungsansätze existieren bereits: eine stärkere Integration von geschlechts- und genderspezifischen Inhalten in die medizinische Aus- und Weiterbildung, die Erhebung und Analyse geschlechtsspezifischer klinischer Daten – unterstützt durch KI, die Förderung einer aktiven und empathischen Gesprächskultur mit Patientinnen sowie eine breite Aufklärung über die Vielfalt von Krankheitssymptomen.
Unser auf die Gesundheitswirtschaft spezialisiertes Team begleitet Sie gerne mit seiner umfassenden Expertise in der Analyse von Patientenpfaden und geschlechterspezifischer Fragestellungen bei Ihren Projekten rund um die Frauengesundheit. Kontaktieren Sie unser Team.
Über die Autorin,
Margot, Consultant in Alcimeds Healthcare Team in Frankreich